by Stefan Zweig (1881 - 1942)
Polyphem
Language: German (Deutsch)
Jahre schon leben wir in deiner Höhle, Polyphem! Höhle des Dunkels, Höhle des Grauens und böser Erwartung, Polyphem! Du ewig hungriger menschenfressender Riese, dessen Auge starr, stählern und wimpernlos die selige Träne nicht kennt. Tag für Tag greift deine harte haarige Hand in unsere Reihen, fühlt, betastet und wägt unsere schauernden Glieder, reisst Freunde von Freunden, Brüder von Brüdern, schlägt Schädel und Hirne, gefüllt mit Liebe und warmen Gedanken, Körper und Stirnen, durchglüht von Samen Süsse des Lebens gegen die Felsen des Schicksals, und gierig schlürft dein breites, wulstiges, tierisches Maul das heilige Fleisch göttlicher Menschen. Wie Tiere gedrängt, schauernd im Dunkel der blutigen Höhle sitzen wir und fragen uns an mit sklavischen Augen: Wann du? Wann ich? Wann der letzte göttlicher Menschen, in den Wanst des ewig sich weitenden, dieses aufgeblähten sinnlosen Tiers? Unsere Wangen sind mürb von vergessenen Tränen, unsere Augen verdunkelt vom täglichen Anblick der Schmach. Ein eiserner Ring erdrückt unsere Kehle, die einstens lobend sang die Schönheit der Welt. Wir können nicht reden, wir können nur stöhnen. Wie die Vögel im Sturm gesträubten Gefieders wärmen wir uns, einer am andern, aber wir ballen die Fäuste, dass das Blut rot aus den Nägeln springt. Er aber, trunken von Blut, frech von der Mast heiliger Menschen, räkelt sich breit auf der ewigen Erde, vom Morgen bis Mittag liegt er hingestreckt, zermalmend die Äcker, zerberstend die Wälder, zerdrückend die Städte, der Menschenschlinger, und lacht mit dem kalten Auge, dem tränenlosen , in die Himmel, wo die Götter, die Schläfrigen, schlafen und schlafen. Aber hüte dich, Polyphem! Es brennen heimlich die Feuer der Rache in unseren Seelen. Der Atem der Toten entfacht sie zur Glut! Schon schmieden wir nächtlich den Pfahl, den Pfahl für dein Auge, das tränenlose! Hüte dich! Hüte dich, Polyphem Schon schärfen wir die Spitze im Feuer! Friss nur, saufe, mäste dich an, Polyphem! Doch wenn du dann träumst vom ewigen Frasse, stossen wir dir die Nacht in die Stirn, und aus der Höhle des Bluts und des Grauens schreiten wir, Brüder der Völker, Brüder der Zeiten, über deine Leiche in die ewigen Himmel der Welt!
Authorship:
- by Stefan Zweig (1881 - 1942), "Polyphem", written 1917 [author's text not yet checked against a primary source]
Musical settings (art songs, Lieder, mélodies, (etc.), choral pieces, and other vocal works set to this text), listed by composer (not necessarily exhaustive):
- by Armin Schibler (1920 - 1986), "Polyphem", subtitle: "Cantate", 1952 [ tenor, chorus and 2 pianos ] [sung text not yet checked]
Researcher for this page: Joost van der Linden [Guest Editor]
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